Sehr geehrter Herr Wiebicke,

im Gespräch mit dem Soziologen Klaus Dörre stellen Sie die Frage: »Welche Gesellschaftsform brauchen wir für konsequenten Klimaschutz?« Der weitgehend präzisen Analyse Ihres Studiogastes folgend, führen Sie Ihre Zuhörer*innen an der Auflösung des beschriebenen Widerspruchs aber leider haarscharf vorbei.

Mit Wirtschaftswachstum in die Umweltkrise, ohne Wachstum in die soziale Krise – das ist derzeit die Handlungsoption der Politik. In den Worten des Soziologen Klaus Dörre: »Dem Kapitalismus sei wegen seiner Wachstumsfixierung die ökonomisch-ökologische Zangenproblematik geradezu eingeschrieben.« Um dieser Zwickmühle gedanklich und praktisch zu entkommen, muss man zunächst die Ursache für diesen Widerspruch präzise beschreiben. Und genau das vermisse ich bei Herrn Dörre.

Der Wohlstand unserer Gesellschaft wird täglich aufgeteilt zwischen den Arbeitenden, in Form von Arbeitslohn, und den Besitzenden, in Form von Kapitalerträgen. Wenn eine Volkswirtschaft nicht weiter wächst, heißt das zunächst, die jährliche Wirtschaftsleistung bleibt konstant. Kein Grund für Wohlstandsverlust und Armutszunahme. Wenn jedoch die Kapitalerträge permanent zunehmen, geht dies zulasten all jener, die nicht von ihrem Kapital leben. Also zulasten der allermeisten Menschen in unserer Gesellschaft.

Zur Auflösung der Wachstumsproblematik und zur Lösung der Verteilungsprobleme ist es demnach notwendig, das Wachstum der Kapitalrenditen gegen null abzusenken. Zur Verringerung der bereits existierenden Überproduktion ist es dann folglich sinnvoll, Kapitalrenditen im negativen Bereich anzustreben.

Die Rendite des internationalen Finanzkapitals hat sich durch das Überangebot an Finanzkapital bereits dem Nullzins und damit der Wachstumsneutralität angenähert. Siehe dazu: »Der Zins sinkt schon seit dem späten Mittelalter«. Leider wurde diese Entwicklung parallel durch den exorbitanten Anstieg der Bodenpreise und damit verbunden der Bodenrenditen konterkariert. Auch die auf Patenten beruhenden Kapitalerträge konnten durch geschickte und mächtige Lobbytätigkeit in den letzten Jahrzehnten permanent gesteigert werden.

Ihr Nachdenken über neue Gesellschaftsformen ist nachvollziehbar und erfreulich. Für den entscheidenden gesellschaftlichen Wandel braucht es allerdings keine neuen Menschen und auch keine Abkehr von unserer Gesellschaftsform. Für eine stabile Nullzins-Währung braucht es lediglich ein etwas beherzteres Eingreifen der Notenbanken. Die Abschöpfung der Bodenrente, wie sie die europäische Bodenreform-Bewegung seit 150 Jahren propagiert, erfordert in erster Linie Aufklärung und einen politischen Willen. Und auch die Reduzierung sonstiger Kapitalrenten ist über den Gesetzgebungsprozess relativ leicht zu erreichen.

Lesen Sie hierzu auch: »Was bräuchte es, um Wirtschaft und Natur in Einklang zu bringen?«, »Mauer des Schweigens«, »Grundsteuer: Zeitgemäß!« und »Stabile Währung durch Haltegebühr auf Geld«


Klaus Willemsen, 30.09.2021

Verwendete Quellen:

www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/klaus-doerre-102.html

www.zeit.de/2020/05/zinsen-abstieg-notenbanken-sparer-investitionen-mittelalter/komplettansicht

Was bräuchte es, um Wirtschaft und Natur in Einklang zu bringen?

Mauer des Schweigens

www.grundsteuerreform.net

www.geldreform.eu/stabile-waehrung-durch-haltegebuehr-auf-geld

und aktuell: »The day after: Grund-solidarisch aus der Corona-Krise!«